Fasnetslexikon

"Narro, Narro kugelrund, d'Stadtleut sind wieder älle gsund" singen die Kinder am Rosenmontag in Rottweil auf der Straße und werden von den Schantle und Fransenkleidle, den Glatt und Biss mit Süßigkeiten belohnt.

Die alten katholischen Reichsstädte bewahren bis heute ihr Fasnetsbrauchtum. Die Zeiten, in denen die evangelischen Bürger das als teuflisches Treiben brandmarkten, sind weitgehend vorbei.

Menschen, die aus den badischen Landesteilen, aus Oberschwaben und der Baar in traditionell evangelische Regionen Württembergs umzogen, brachten ihre Masken und Zünfte mit. Dabei bildeten sich zum Teil kuriose Kombinationen aus der schwäbisch-allemannischen Fasnet und der jüngeren Karnevalstradition, wie der Stuttgarter Rosenmontags-Umzug.

Die Menschen, vor allem die Jugend, kümmert das wenig. Sie wollen Spaß, Klamauk und Mummenschanz. Viele Christen sehen das Treiben dagegen mit kritischen Augen. Dabei sollte man allerdings historische Irrtümer vermeiden. Fasching geht nicht auf vorchristliche Sitten zurück und hat nichts mit heidnischen Göttern zu tun.

Diese Legende wurde vom Nationalsozialismus verbreitet, der gerne altgermanisches Brauchtum im Volk ausgemacht hätte. In Wirklichkeit sind selbst die ältesten Bräuche nur bis ins späte Mittelalter zurück zu verfolgen, in Saulgau zum Beispiel bis 1355. Ihr Ursprung liegt vermutlich in den volkstümlichen Mysterienspielen, in denen neben Himmel und Heiligen auch die teuflische Gegenwelt ihren Auftritt hatte. So manches Häs (ein altes Wort für Gewand) geht auf ein mittelalterliches Teufelskostüm zurück.

Eine zweite Quelle war die Narrengestalt mittelalterlicher Kunst, mit Eselsohren, Szepter und Schelle. Sie stand für menschliche Dummheit, Stolz und Lieblosigkeit. Denn nach 1. Korinther 13 ist, wer die Liebe nicht hat, wie eine tönende Schelle. Der Narr ist also eine Verkörperung von Schwäche und Vergänglichkeit. Die Welt ist sein Narrenschiff, das er in den Untergang steuert.

Die Fasnet, die uns die menschliche Narretei vor Augen führt, hatte ihren Platz im Kirchenjahr zwischen Dreikönig (6. Januar) und der Fastenzeit ab Aschermittwoch. Sie beginnt also nicht am 11.11. Dieser Termin gehört zur Karnevals-Tradition, die erst im 19. Jahrhundert entstand. Für das Volk bot der Mummenschanz die Gelegenheit, einmal im Jahr über die Stränge zu schlagen und der Obrigkeit mit Masken und Schabernack einen Spiegel vorzuhalten.

Volkskundler sprechen deshalb von einer "Ventilsitte". Noch heute tun unbeliebte Beamte und Lehrer in Rottweil gut daran, sich am Rosenmontag nicht auf der Straße sehen zu lassen. Bei den Narren stehen sie mit schlecht gereimten, aber umso deutlicheren Spottversen im Narrenbuch.

Auch der Karneval hat gesellschaftskritische Züge, obwohl er dadurch entstand, dass im 19. Jahrhundert gebildete Schichten das Treiben der kleinen Leute kultivieren wollten.

Im Südwesten setzte sich die bürgerliche Karnevalskultur - anders als im Rheinland - allerdings nicht dauerhaft gegen die älteren Bräuche durch.

Die Männer der Reformation sahen im Fasching Sitten- und Glaubenslosigkeit. In der Tat kam (und kommt) es im Volk zu erotischen und alkoholischen Exzessen, die man mit der kirchlichen Bußzeit auszugleichen meinte. Der Kampf gegen diese fragwürdige Moral und gegen den Aberglauben ließ in evangelischen Gegenden (mit Ausnahme von Basel) die Fasnet erlöschen.

Aber auch die katholischen Herrschaften waren, vor allem in der Aufklärungszeit, gegen den Fasching. Um 1800 sah es so aus, als würde das Brauchtum der kleinen Leute verschwinden.

Dass es im 19. Jahrhundert zu einer Wiederbelebung kam, ist der Romantik und ihrem Interesse am Mittelalter zuzuschreiben.

Der heutige Boom der Narren hat allerdings andere Gründe. Von 1975 bis 2000 vermehrten sich die Narrenzünfte im Südwesten von etwa 300 auf 1200, nicht wegen der christlichen Symbolik, sondern wegen der Sehnsucht nach volkstümlichen Traditionen, nach Beheimatung und bürgerlicher Gemeinschaft. Man setzt der anonymen Weltgesellschaft eine kleinräumige Kultur entgegen, und der gnadenlosen technischen Verzweckung des Lebens ein burleskes Spiel.

Das Rathaus wird von den Narren gestürmt, nicht um die Gesellschaft zu ändern, sondern damit sie so bleiben kann, wie sie ist. Der Erlebnishunger der Spaß-Gesellschaft spielt allerdings bei dem Boom ebenfalls mit. Dass evangelische Christen ihn nicht schüren wollen, ist richtig. Richtig ist auch, dass es keine Jahreszeit gibt, in der das Gewissen suspendiert werden darf. Eine Buße, die man beim wackeren Sündigen schon einplant, hat keinen Wert.

Anderen Seiten der Fasnet kann man als Christ jedoch etwas abgewinnen. Dass Würden und Besitztümer vergänglich sind, darf nicht nur Gemeinde- und Landräten, sondern auch Normalbürgern jedes Jahr deutlich werden. Das Spiel mit Verkleidungen, mit fantastischen Rollen, mit einem anderen Selbst, ist nichts Verwerfliches.

Für Kinder steht diese Seite des Faschings im Vordergrund. Sollen sie sich als Clowns, Indianer oder grüne Aliens verkleiden - solange die Maskerade nicht zum Konsumzwang wird, spricht nichts dagegen.

Die Angst, Hexenmasken und Teufelskostüme würden zum Okkultismus verführen, wird durch die praktische Erfahrung nicht bestätigt. Okkultängste sind in der Erziehung ein schlechter Ratgeber.

Die Gefahr der Faschingsfeste sind nicht die Masken, sondern Alkohol und blinde Erlebnisgier. Das Ziel muss sein, unsere Kinder und Jugendlichen gegen diese Gier kritisch zu stimmen. Kein einfaches Ziel, denn die Hatz nach Spaß um jeden Preis treibt auch Erwachsene um, die Vorbilder sein sollten. Auf dem modernen Narrenschiff nehmen die maskieren Hästräger keine besonderen Plätze ein, und den Treibstoff für die Fahrt in den Untergang liefern andere.

Im Gegenteil, bei den Verantwortlichen der Zünfte werden besorgte Eltern oft Verbündete gegen Exzesse finden. Hat sich die evangelische Kirche also mit dem Fasching ausgesöhnt, nachdem sie ihm früher einmal den Garaus machte?

Kirche ist nicht mehr Obrigkeit und kann keine Lebensregeln mehr verordnen. Es ist auch besser so. Das gibt uns die Freiheit, alle Narren (einschließlich uns selbst) zur christlichen Freiheit einzuladen.

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